Der Katalog zur Ausstellung

 200 Seiten stark. Für 15,- € bei uns oder im Museumsshop erhältlich.



Ursache und (Neben-)Wirkung von Dr. Stefan Albus. Aberglaube: Klar – das bedeutet, schwarzen Katzen aus dem Weg zu gehen, drei Mal auf Holz zu klopfen, über die Schulter zu spucken, wenn man etwas Wichtiges vor hat, solche Sachen – die Liste ließe sich leicht verlängern. Aber hey: Glaubt da wirklich noch jemand dran? Aberglaube: Das ist doch was für andere. Für Großmütterchen, Verschrobene, Zwangsgestörte. Oder? Nun ja: womöglich doch nicht so ganz: Die Künstlerinnen Ines Braun und Iris Stephan machen da eine viel größere Rechnung auf. „Es geht uns nicht nur um Alltags-Aberglauben“, so das Duo, das seit mittlerweile acht Jahren zusammenarbeitet, „sondern auch um das, was passiert, wenn Menschen sich den Aberglauben ihrer Mitmenschen zu Nutze machen.“ Dabei sehen sie deutliche Parallelen zu Glücksschwein & Co., zu Bleigießen und Hals- und Beinbruch- Wünschen sogar im Religiösen aufscheinen. In der Religion? Zu Recht? Nun: Wer sich näher mit dem Thema Aberglaube befasst, der merkt schnell: Das mit schwarzen Katzen & Co. ist gar nicht alles Unsinn. Im Kern handelt es sich bei abergläubischen Praktiken oft um ganz logische Verhaltensweisen, wenn man die Prämissen dahinter erst einmal geschluckt hat. Wenn man an Hexen glaubt und „weiß“, dass sie vor Ruß reißaus nehmen: Dann kann es durchaus sinnvoll sein, Schornsteinfeger anzufassen. Letztlich
steckt hinter allem Aberglauben der Teil unseres inneren Betriebssystems, der beständig versucht, in einer komplizierten Welt verborgene Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufzudecken: so menschlich wie das Ausdenken von Werkzeugen. Das Problem: Manchmal geht die stetige Suche nach derlei Zusammenhängen schief. Dann vermuten wir Verbindungen, wo keine sind – das sind die Nebenwirkungen der stetigen Suche nach Ursachen und Sinn. Aberglaube: So kann man zusammengefasst wohl die Späne nennen, die fallen, wenn wir die Welt mit den groben Instrumenten unseres Verstands bearbeiten. Eigentlich halb so wild also. Leider kann Aberglaube schnell auch eine monströse Seite entwickeln. Zu sehen zum Beispiel in Tansania, wo weißhäutige Afrikaner gefährlich leben, weil sich einige ihrer Landsleute von Albino-Körperteilen, zu Pulver vermahlen, Reichtum und Erfolg versprechen. Darum gehen Ines Braun und Iris Stephan in ihrer Analyse – zu Recht – einen entscheidenden Schritt weiter. Indem sie beleuchten, welche Rolle der Aberglaube zwischen den Leuten spielt: „Aberglaube funktioniert nicht ohne Menschen, die daran glauben möchten. Ohne gläubige Kranke gäbe es keine Heiler“, erläutern sie. Und damit sind wir tatsächlich unmittelbar im Religiösen: Auch hier sehen die Künstlerinnen Ursache-Wirkungs-Konstrukte am Werk – womöglich hat sich der Mensch ja auch seine Götter ausgedacht, um sich die Welt zu erklären –, die allerdings per definitionem nicht hinterfragt werden können. Was Religionen in den Augen des Duos allerdings nur um so verdächtiger macht. „Wir haben großen Respekt vor religiösen Menschen und wollen niemanden bekehren“, sagen Ines Braun und Iris Stephan, „aber wer glaubt, im Besitz des wahren Glaubens zu sein, kann schnell in Versuchung geraten, sich von Mitmenschen abzugrenzen, die einer anderen Heilslehre anhängen. Dann wird der Glaube des Gegenübers zum Aberglauben.“ Zusammen mit den Machtansprüchen, die große Religionsgemeinschaften erheben und vielleicht erheben müssen, um eine große Schar von Gläubigen über Jahrhunderte auf dem rechten Weg zu halten, kann daraus ein giftiges Gebräu entstehen: „Die größten Probleme unserer Zeit haben mit Religionen zu tun“, so die Künstlerinnen. Was also ist zu tun? Mit Aufklärung – Wissenschaft – allein ist dem Problem kaum beizukommen: Zu stark verdrahtet ist die Ursache-Wirkungs-Maschine in unserem Gehirn, zu stark die Tendenz des Menschen, an „bewährten“ Glaubensinhalten festzuhalten, zu sehr haben sich vor allem Religionen gegen „weltliche“ Argumente immunisiert. Aber Kunst kann Dinge leisten, die die Wissenschaft nicht vermag. Viele der Arbeiten des Künstlerinnen-Duos Braun und Stephan tragen über das Konkrete, Fassbare, Stoffliche, zuweilen auch Augenzwinkernde und Verschmitze hinaus, das ihren Objekten, Collagen und Bildern anhaftet, eine Aura des Geheimnisvollen. Etwas Unerklärliches, etwas, das unsere Wenn-Dann-Maschine, den heißen Kern des Aberglaubens-Reaktors in uns, anspricht. Die Künstlerinnen stellen Dinge neben- und damit in Beziehung zueinander, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben; die Sinn-Lücke dazwischen muss der Betrachter auffüllen. Damit ist er automatisch in der Position desjenigen, der vor einem abergläubischen Brauch und der manchmal unlösbaren Aufgabe steht, herauszufinden, welchen Zweck dieser wohl einmal erfüllt haben mag. Auch Bezüge zur Religion werden ganz bewusst gesetzt, exemplarisch zu sehen etwa in den Assemblagen aus Brauns Schrein-Serie und ihrem Schaukel-Nkisi, einer Bezugnahme auf außereuropäische Kraftfiguren, oder Stephans Reliquientafeln und teilweise auch in ihrer Orakelpriester-Reihe. Hier spüren die Künstlerinnen der „Chemie“ hinter Entstehung und Rezeption von Aberglauben – und Glauben? – auf sehr feinsinnige Weise nach.Aber sie leisten mehr. Und zwar immer dann, wenn sie die Welt des Alltags und der Religionenverlassen und sich der Bildsprache des Maschinellen, Funktionellen, Forschenden bedienen – etwa in Gestalt von Objekten aus Glasapparaturen, Lampen, Instrumenten- und Maschinenteilen. Die alchemistischen Apparaturen Ines Brauns zum Beispiel erwecken selbst in aufgeklärten Menschen ähnliche Fragen, wie sie manch einer der Zeitgenossen berühmter Alchemisten, vielleicht sogar die „Goldmacher“ selbst, umgetrieben haben könnte: Wozu
mag das gut sein? Was passiert darin? Welchen Gesetzen gehorcht die Physik hier? Auch manche Objekte Iris Stephans scheinen sich geheimnisvoller Gesetzmäßigkeiten zu bedienen, die heute außer Kenntnis geraten sind – etwa in ihrem sinistren und doch so unbekümmerten Jenseitslabor. All dies haben die Arbeiten der beiden Künstlerinnen mit vielen Exponaten gemeinsam, die die Herner Archäologen zu dieser Ausstellung beitragen: Auch deren Sinn ist bisweilen verloren gegangen bzw. nur noch in Ansätzen bekannt – manche sind etwa mit Symbolen verziert, deren Bedeutung heute niemand mehr erklären kann. In dieser gelungenen Gegenüberstellung zeigt sich, wie exzellent sich Kunst und Wissenschaft ergänzen und voneinander profitieren können – ein Glücksfall! „Kunst kann ausdrücken, was Museumsstücke nicht können“, erläutern die Künstlerinnen. Denn irgendwann komme jeder Archäologe an den Punkt, an dem er sagen müsse: Ab hier können wir nur noch spekulieren. Künstler können dagegen Objekte schaffen, die eine eigene Geschichte aus eigenem Recht erzählen und damit in einem gewissen Sinne „vollständiger“ sind als archäologische Fundstücke. Und diese damit kommentieren können. Mit anderen Worten: Die Kunst kann in diesem Falle erlebbar machen, was archäologische Fundstücke sein könnten, wenn man nur mehr über sie wüsste – und diese Aura auf sie übertragen. Wie auch die Kunst umgekehrt von der Aura der archäologischen Exponate profitiert, weil den erst in den vergangenen Jahren geschaffenen Objekten natürlich der Odem der
„Echtheit“ fehlt. Man stelle sich ein schweres, schartiges Schwert vor; wenn man erfährt, dass mit genau dieser Waffe nachweislich Menschen enthauptet wurden, ist das Schwert physikalisch zwar dasselbe wie zuvor – aber an die Wohnzimmerwand würden es wohl nur noch die wenigsten hängen. Denn durch diese Erläuterung wohnt dem Gegenstand plötzlich irgendetwas Seelenhaftes inne. Etwas, das die Wissenschaft nicht formulieren, nicht greifen kann, nicht greifen darf, die Kunst aber sehr wohl. Andersherum erzeugt auch die Installation Die wilde Jagd des Kölner Duos beim Betrachter starke Gefühle, womöglich stärkere, als es manche realen Fundstücke aus dem westfälischenBoden könnten. Denn deren Deutung und Bedeutung muss unvollständig bleiben, wenn man den wissenschaftlichen Befund nicht überstrapazieren will. Die Installation dagegen kann und darf sich einen eigenen Bedeutungsraum erschaffen. Auf die Spitze treibt dies Ines Braun, indem sie den Objekten ihres Orator-Programms eine präzise, vermeintlich wissenschaftliche Funktionsbeschreibung mit auf den Weg gibt. Trotzdem darf der „Zweck“ der Kunstobjekte frei imaginiert werden! Wer also über Brauns und Stephans Arbeiten ins Staunen gerät, kann seine Verwunderung auch in die Betrachtung der LWL-Fundstücke retten und diese in einem Licht sehen, in das sachliche Wissenschaftler sie nicht stellen dürfen – und umgekehrt. Dass die künstlerischen Arbeiten trotz ihrer Geburt in einer Sphäre des nicht-Authentischen neben den Fundstücken der Archäologen bestehen können, sogar neben menschlichen Überresten, spricht überdies für die außerordentliche Kraft der Objekte, die Ines Braun und Iris Stephan beigetragen haben. Kunst und Wissenschaft laufen in der Ausstellung Aberglaube – Moderne Kunst trifft archäologische Funde des LWL also aus ganz unterschiedlichen Richtungen auf ein gemeinsames Ziel zu. Die Wissenschaft kann selbst in einer idealen Ausgrabungs- bzw. Fundsituation immer nur lückenhafte Bilder des Gewesenen rekonstruieren. Die Kunstobjekte schließen diese Lücke, weil sie Betrachter auffordern, sie lustvoll zu füllen. „Ohne Fantasie gäbe es keinen Aberglauben“, erklären die Künstlerinnen. Und keine Kunst. Und keine Wissenschaft.